Das Ziel

Mit dem Rad im Windschatten eines Autos oder Motorrads volles Tempo fahren – um solche Geschwindigkeitsrekorde hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein Mythos gesponnen, der sowohl auf Zuschauer als auch auf unerschrockene Fahrer eine enorme Faszination ausübte. Nachdem der Franzose José Meiffret 1962 zum ersten Mal die Marke von mehr als 200 Stundenkilometer (204.778 km/h) hinter einem Mercedes-Benz 300 SL auf einer deutscher Autobahn geknackt hatte, legte der amerikanische Arzt Dr. Allan Abbott, „The Flying Doctor“, am 25. August 1973 die Messlatte erneut nach oben: Hinter einem 1955’ Chevrolet beschleunigte er vor beeindruckender Kulisse in der Großen Salzwüste der Bonneville Flats, USA, auf eine Geschwindigkeit von 223.466 km/h.

Rekorde, die 1978 auch den Ehrgeiz von Jean-Claude Rude, zu jener Zeit professioneller Bahnradfahrer, befeuerten. Der damals 23-Jährige hatte sich dem Erreichen der ungeheuren Leistung von 240 km/h auf einem Fahrrad verschrieben und verfolgte das Ziel mit all seiner Energie.




Die Vorbereitung

Dazu kontaktierte der Leiter von Rudes Bahnrad-Team den französischen Landsmann Henri Pescarolo – einer der bekanntesten und erfolgreichsten Rennfahrer der Siebzigerjahre, dessen Name nach 33 Teilnahmen und vier Siegen bis heute noch vielfach Erinnerungen an legendäre Le-Mans-Rennen weckt. Pescarolo ließ sich, anfangs noch skeptisch angesichts der tollkühnen Versuchsanordnung, von der Begeisterung Jean-Claude Rudes überzeugen. 




Das Auto und das Fahrrad

Was nun noch fehlte, war ein leistungsstarkes Auto. Dafür holte das Rad–Team Porsche ins Boot. Ein 935 Turbo des Martini-Racing-Teams mit 800 PS mit einer extra für diesen Rekordversuch angebrachten, raffinierten Dachkonstruktion war genau der richtige Wagen, um als Schrittmacher bei dem Weltrekordversuch zu dienen. Eine Art trapezförmiger Schirm umspannte das Heck des Porsche, um maximalen Windschatten zu gewährleisten. Auch mit diesem zusätzlichen Aufbau brachte der Porsche 935 genügend Power, um die angestrebte Geschwindigkeit zu erreichen.

Eine Rolle über die Länge der Stoßstange ermöglichte es Jean-Claude Rude mit seinem Vorderrad am Heck des Porsche 935 zu „kleben“, um sicher im Windschatten zu bleiben. Auch das Fahrrad, das zum Einsatz kam, war kein gewöhnliches Modell. Das vordere Zahnrad erreichte nahezu den Umfang des Vorderrads, das hintere hatte gerade einmal einen Durchmesser von etwa zwei Zentimetern. Mit einer Kurbelumdrehung von rund 110 Zentimetern hatte das Rennrad ein außergewöhnlich großes Übersetzungsverhältnis – pro Kettenradumdrehung konnte Rude an die 27 Meter Strecke zurücklegen. Das bedeutete aber auch, dass das Rad zum Start von einem Motorrad mit Lanze angeschoben werden musste, da es aus eigener Kraft gar nicht in Schwung zu bringen war.  



Jean-Claude Rude und der Rennfahrer Henri Pescarolo



Die Rennstrecke

Während die vorausgegangenen Rekordfahrten von Meiffret und Abbott auf langen Geraden ausgetragen worden waren (Meiffret fuhr auf einer noch nicht fertiggestellten Autobahn in Deutschland, Abbott auf dem ausgetrockneten Salzsee von Bonneville), starteten Pescarolo und Rude unter erschwerten Voraussetzungen. Auf einer Autobahn anzutreten, wie zunächst geplant, war nicht möglich.

Das Volkswagen-Testgelände in Ehra-Lessien bei Wolfsburg diente als Alternative, bot aber auch zusätzliche Herausforderungen: „Wir haben gleich gesehen, dass es schwierig sein würde“, erinnert sich Henri Pescarolo. „Es gab eine Kurve am Anfang und am Ende der Geraden.“ Bedingungen, die das Anfahren erschweren. Jean-Claude Rude musste auf seinem Rad erst allmählich Geschwindigkeit aufnehmen, gleichzeitig musste der Porsche so langsam fahren, dass Rude im Windschatten blieb. Nicht einfach mit einem 800 PS starken Turbo.

Enormer Druck lag somit auch auf Henri Pescarolo am Steuer des Porsche. „Ich war verantwortlich für sein Leben“, sagt der heute 75-Jährige rückblickend. Die ideale Startgeschwindigkeit finden, den Turbo des Porsche 935 zur Beschleunigung kontrollieren und sicherstellen, dass Jean-Claude Rude in der windgeschützten Zone bleibt – auf Pescarolo musste Verlass sein.




Der Rekordversuch

Am Mittwoch, den 23. August 1978, 10.30 Uhr, war es soweit. Nach einigen Warmlauf-Versuchen gelingt dem Duo der Start auf der Geraden. Jean-Claude Rude wird von einem Motorrad über eine Lanze angeschoben und kann seinen Sprint anziehen. „Er hatte eine unglaubliche Kraft in den Beinen, um das Rad in Gang zu setzen, und danach seinen Rhythmus zu finden. Er war professioneller Bahnradfahrer, er kannte die Anstrengung, aber für jeden anderen wäre das eine übermenschliche Leistung gewesen“, erzählt Pescarolo.

Jean-Claude Rude beschleunigt, tritt in die Pedale, „mit 150 km/h kommt er an der Rolle aus der Steilwand, er kann nun auf den sieben Kilometern bis zur Messstrecke die angestrebten 240 km/h erreichen“, heißt es in einem alten Bericht des Porsche-Kundenmagazins Christophorus. Pescarolo setzt im 935 gerade dazu an, die Geschwindigkeit kontrolliert zu erhöhen, da passiert es: Rude verliert die Kontrolle über sein Rad. Der hintere Schlauchreifen löst sich mit einem Ruck von der Felge, verwickelt sich zwischen Rad und Rahmen. Das Rad blockiert, die Felge wetzt über die Fahrbahn.

Pescarolo: „Wir waren sehr glücklich, dass ihm nichts passiert ist“

Rude gelingt es, das schleudernde Vehikel „wie ein Skifahrer“ im Griff zu halten und auf der Felge über die Bahn zu schlittern, bis er an Geschwindigkeit verliert und nach einigen hundert Metern zum Stehen kommt. Unverletzt.

„Das war das Ende des Rekordversuchs, aber wir waren sehr glücklich, dass ihm nichts passiert ist“, erinnert sich Pescarolo. Einen neuen Versuch wird es nie geben, der Radprofi Jean-Claude Rude sollte im Jahr darauf bei einem tragischen Unfall ums Leben kommen.

Rompelberg hält bis heute den absoluten Geschwindigkeitsrekord auf einem Fahrrad

Bis heute hält der Niederländer Fred Rompelberg den absoluten Geschwindigkeitsrekord auf einem Fahrrad. Er erreichte 1995, wie Allan Abbott auf den Bonneville Flats, eine Geschwindigkeit von 268,8 Stundenkilometer.

Doch der Porsche 935 Turbo Martini bleibt eines der elegantesten und dynamischsten Schrittmacher-Fahrzeuge in der Geschichte der Radrekorde. Ohne seinen Heckaufbau siegte das Modell 1979 in Le Mans und gewann viermal hintereinander die Markenweltmeisterschaft.




Info

Einen Beitrag finden Sie in Episode 7 des 9:11 Magazin.



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Quelle: Porsche Newsroom

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