Herbert Linge

Mit 88 Jahren noch im Stehen die Schuhe wechseln zu können, ist nicht jedem vergönnt. Herbert Linge kann das. Mit einer Hand auf einen Strohballen gestützt, zieht er sich den alten Treter vom rechten Fuß und schlüpft in einen nagelneuen alten Rennschuh. Dann folgt die linke Seite. Es sind ganz besondere Schuhe – sein alter Kumpel Francesco „Ciccio“ Liberto hat sie gemacht. Der Schuhmacher aus Cefalù kennt hier fast jeden der alten Recken, und viele Rennfahrer haben sich vor Jahren passgenaue weiche, schlanke Paare von dem begnadeten Lederkünstler machen lassen. Linge gleich drei.

Zwei davon hat er in ewigen Tempokämpfen verschlissen, aber ein Paar hat er aufbewahrt. Er trug es bislang nur ein einziges Mal – bei den Filmaufnahmen zu Steve McQueens Epos „Le Mans“. Und nun auch heute: Noch einmal fährt er einen originalen Teilabschnitt der Targa Florio, dem einst wildesten und gefährlichsten Straßenrennen der Welt. In einem alten, ehrwürdigen Auto – dem Porsche 718 RS 60 Spyder. Manche Menschen schlüpfen für Feierlichkeiten in einen Anzug mit Schlips – Linge bevorzugt die neuen alten Schuhe.

Vier Targa-Florio-Legenden auf Sizilien

Feierlich ist jedem zumute – Linge, aber auch Gijs van Lennep (76), Günther Steckkönig (80) und Vic Elford (81). Die Crew des Porsche-Museums hat es geschafft, diese vier Targa-Florio-Legenden noch einmal auf Sizilien zusammenzubringen, ihnen zum 110. Geburtstag der „Targa“ und zum 60. Geburtstag des ersten Targa-Porsche-Sieges (Umberto Maglioli im 550 A Spyder) alte Rennwagen hinzustellen und sie erneut den Geruch von verbleitem Benzin, Olivenbäumen und duftenden Pizzen einatmen zu lassen. Und dabei Gas zu geben – auf der Strecke zwischen den noch stehenden Gebäuden an Start und Ziel bei Cefalù und dem ersten größeren folgenden Ort, Cerda.

Auf dem 718 RS 60 Spyder ist Linge früher nie gefahren, trotzdem findet er sich sofort in dem wertvollen Rennwagen zurecht. Die Basis des Spyder ist der 718 RSK. Aufgrund eines neuen technischen Reglements musste das Cockpit verändert werden, was nur mit verlängertem und verbreitertem Stahlrohrrahmen gelang. Das Mehrgewicht fingen leichtere Räder und Magnesium-Bremstrommeln auf. Der Wagen startete 1960 in der Marken-WM; bei der „Targa“ im gleichen Jahr wurden zwei 718 RS Spyder Erster und Dritter. Doch das Metier des Wagens war der Berg: Der Schweizer Heini Walter gewann damit die Europa-Bergmeisterschaft in den Jahren 1960 und 1961.




Sich mit Linge während der Fahrt im Spyder zu unterhalten gestaltet sich nur dann schwierig, wenn man selbst kein Schwabe ist. „Ich war 1959 zum ersten Mal hier“, erinnert er sich, „und die Autos erwiesen sich von Anfang an als extrem zuverlässig.“ Zwar konnte Linge bei zehn Starts nie gewinnen, war „nur“ zweimal Zweiter; „aber ich bin immer angekommen!“ Der damalige Rennleiter Huschke von Hanstein wollte schon immer zur „Targa“, um zu zeigen, was die kleinen Autos aus Stuttgart können: Es war eben kein Rennen wie jedes andere … Linge war aber auch kein Porsche-Mitarbeiter wie jeder andere. In Weissach geboren, wird er als Mechanikerlehrling Porsche-Mitarbeiter Nummer 13, wie sein Hausausweis noch heute zeigt. Er bleibt der Firma stets treu in verschiedenen Positionen, gründet die ONS-Sicherheitsstaffel und wird deren technischer Leiter. Bis 1993 managt er noch den Carrera-Cup.

Von 1954 bis 1970 greift er dann aktiv ins Rennlenkrad. 1954 fährt er im Porsche 550 Spyder die Mille Miglia und wird Klassensieger sowie Sechster des Gesamtklassements, gewinnt die Tour Lüttich–Rom–Lüttich auf einem 356 SL, wird Zweiter bei der Tour de France auf dem 550 Spyder und im gleichen Wagen Vierter bei der Carrera Panamericana. 1961 rast er erstmals bei der Targa Florio mit im 356 B Carrera GTL Abarth, 1963 wird er dort Gesamt-Dritter (und Klassensieger) auf dem berühmten „Dreikantschaber“ 356 B Carrera GT. 1964 wird er Gesamt-Vierter in Le Mans auf dem Porsche 904, was er 1965 wiederholt. Insgesamt sichert Linge für Porsche sagenhafte 90 Klassensiege.


Günther Steckkönig

Ist Linge ein bescheidener Mann geblieben, ist Günther Steckkönig noch bescheidener. Fast preußisch aufrecht hat sich der Schwabe mit dem markanten Schnauzbart hinter das Steuer des Porsche 356 B 1600 Carrera GTL Abarth gesetzt; mit sehnigen Armen treibt er die letzte Coproduktion zwischen Abarth und Porsche den Berg hinauf. Der Königswellenmotor winselt nach Drehzahlen, und Steckkönig gibt sie ihm. Eine Unterhaltung ist nur möglich vor Kurven oder wenn er vom Gas muss, weil ein anderer Teilnehmer havariert ist. Der Sound im Porsche ist infernalisch – zwar infernalisch schön, aber eben infernalisch. Steckkönig freut sich riesig – der Mann wusste damals nicht so genau, ob er ein rennfahrender Ingenieur oder ein ingenieurender Rennfahrer ist. Für ihn ist Sizilien die große Welt, als er hier 1971 erstmals startet.







Sein Leben bei Porsche beginnt 1953. Der Degerlocher ist damals einer der ersten acht Lehrlinge der Sportwagenschmiede; danach besucht er die Techniker-Schule in Stuttgart. Sein Beruf nennt sich „Versuchsfahrer“. Insgesamt 30 Jahre lang arbeitet er im Fahrversuch von Porsche, führt die Formel V gemeinsam mit Huschke von Hanstein ein und fährt wohl fast alle Rennwagen, die Porsche zu der Zeit auf die Räder stellt. 1968 bekommt er seinen ersten Werkseinsatz – und dankt es mit dem zweiten Platz beim Marathon de la Route auf dem Nürburgring im Porsche 911 R. 1970 wird er auf dem Österreich-Ring Gesamtsieger bei den GT-Sportwagen im 914/6, 1976 holt er sensationell den siebten Platz in Le Mans im 908/03. Die Targa Florio bestreitet er drei Mal: 1971 auf Porsche 914/6 GT, 1972 auf einem 911 S (Klassensieg und sechster Gesamtrang trotz Unfall) und 1973 auf einem Carrera RSR: „Die Zuschauer waren hier immer besonders freundlich“, erzählt er, wenn der Fuhrmann-Motor ihn lässt; „sogar extrem enthusiastisch – das gab es sonst nirgendwo.“

Zwischen Motoren und Getrieben

Wobei er 1973 Glück hat, überhaupt losfahren zu können. Er reist im Ersatzteilflugzeug zwischen Motoren und Getrieben an – und gleich nach der Ankunft wird ihm offenbart, dass sein Copilot das Wettbewerbsauto gecrasht hat. „Ich wollte aber unbedingt fahren“, erinnert er sich. „Der Sportchef Norbert Singer schlug das Muletto – den Trainingswagen – für das Rennen vor. Also stieg ich in den Übungs-RSR und lernte ihn während des Rennens kennen …“ Und wird noch Sechster im Gesamtklassement. Zur Legende allerdings wird Steckkönig erst, als er das Auto nach getaner Arbeit auf Achse nach Stuttgart fährt. Wegen eines Elektrikdefektes und problematischem Neustart macht er den Wagen zwischen italienischem Festland und Weissach nicht ein einziges Mal aus …

Die Begegnung mit dem 356 B 1600 Carrera GTL Abarth ist 2016 allerdings die erste für Steckkönig. Das Auto ist das Ergebnis der beim Cisitalia Typ 360 begonnenen Zusammenarbeit von Porsche mit dem italienischen Tuner Abarth. Anfang der 60er Jahre will Porsche im GT-Sport mitmischen, da ist eine Leichtbauversion des 356 gefragt. Carlo Abarth vermittelt den Auftrag von 20 Leichtbaucoupés an Zagato in Mailand. Die leisten ganze Arbeit: Die Karosserie wird volle 140 Kilo leichter als die des normalen Porsche 356 B. 1960 gewinnt das Auto mit Hans Herrmann und Joakim Bonnier am Steuer unter anderem die Targa Florio mit 1,6-Liter-Motor, 1961 startet es mit einem 2-Liter-Carrera-Antrieb.


Gijs van Lennep

Wie Siege schmecken, weiß auch Gijs van Lennep. Der gelernte Speditionskaufmann aus Bloemendaal, Niederlande, beginnt seine Motorsportkarriere 1965 in der Formel V. 1966 holt er den Klassensieg beim 1.000-Kilometer-Rennen auf dem Porsche 906 Kurzheck, 1970 sichert er sich den Porsche-Cup. Ein Jahr später rast er mit Dr. Helmut Marko zum Le-Mans-Sieg im Porsche 917 KH, 1972 sichert sich das Multitalent die Europameisterschaft in der Formel 5000. 1973 holt er sich dann den Sieg bei der Targa Florio im Porsche 911 Carrera RSR und wird Vierter in Le Mans. Den Le-Mans-Sieg wiederholt er 1976 noch einmal im Porsche 936. Kein Wunder, dass er sich freut, als Porsche ihm zum Targa-Revival das Schwestermodell seines RSR hinstellt – das Original-Auto, mit dem Herbert Müller einst gewann, konnte es nicht sein, weil es sich in Privathand befindet. Aber immerhin wurde das Museumsauto mit Leo Kinnunen und Claude Haldi Dritter.







Porsche entwickelt den RSR auf Basis des Carrera RS 2.7 als GT-Renner. Mit 300 PS und einem Gewicht von nur 900 Kilo gewinnt der Porsche Anfang 1973 die 24 Stunden von Daytona. Danach startet der Wagen in der Prototypenklasse, die mehr technische Freiheiten erlaubt. Hier bekommt er noch 10 PS mehr, aber auch 40 Kilo mehr Gewicht. Insgesamt 55 RSR entstehen. Einen davon tritt van Lennep jetzt mit Vehemenz und Können. Die teils dramatischen tektonischen Verwerfungen auf dem Asphalt umkurvt er geschickt, ohne langsam zu sein. Wie konnte man damals mit einem GT-Auto die Konkurrenz bezwingen? „Ganz einfach“, sagt er, „weil die anderen Fehler machten. Merzario hatte einen Motorschaden, Ickx kannte die Strecke nicht gut genug und crashte, und schon nach drei Runden führten wir und fuhren präzise weiter. Wenn man in einem Straßenrennen wie der Targa Florio nur einen kleinen Fehler macht, kann man schon raus sein…“


Vic Elford

Wird van Lennep schon dauernd von Fans umlagert, grenzt es bei „Quick Vic“ an ein Wunder, dass er überhaupt zum Fahren kommt. Wenn die Sizilianer einen Helden haben, dann ist es Vic Elford. Autogramm hier, Autogramm da, Doppel-Selfie hier, Dreifach-Selfie dort. Zu Fuß nicht mehr ganz so schnell unterwegs, lebt der gebürtige Engländer und Wahlamerikaner am Volant eines Porsche sofort auf. Der 911 2.7 RS Touring, mit dem Elford zum ersten Training den Berg hinunterfährt, ist nicht so sein Ding (der Sitz lässt sich nicht weit genug verstellen, „und die Vorderachse ist nicht austariert“) – später fährt er doch lieber den Abarth-Porsche.







Egal welches Auto – der Mann mit dem fotografischen Gedächtnis kann sie alle fahren. Kein Wunder, denn er racte fast alles, was vier Räder hat. Nach einer technischen Ausbildung wird er 1966 Werkspilot bei Porsche und absolviert zunächst Rallyes. Noch 1966 erreicht er den dritten Platz bei der Rallye Korsika auf Porsche 911, ein Jahr später gewinnt er die Rallye Stuttgart–Lyon–Charboniéres. Die Karriere führt steil nach oben, unter anderem durch Siege bei der Europa-Rallyemeisterschaft 1961 auf Porsche 911 T. Im gleichen Jahr gewinnt er die Targa Florio auf Porsche 907 KH, die 24 Stunden von Daytona auf dem Langheck-907 und kassiert auch noch die 1.000 Kilometer vom Nürburgring auf dem 908 Kurzheck. Die Rallye Monte Carlo sackt er auf einem Porsche 911 T ebenso ein. 1969 holt er noch einen zweiten Platz bei der Targa Florio auf dem Porsche 911 T, danach wechselt er in die Formel 1.

Vor 48 Jahren: Seine größter Triumph

„Aber die Targa Florio war immer mein Lieblingsrennen“, sagt Elford – zwischen 1967 und 1972 fährt er sie sechsmal hintereinander. Zwar siegt er nur 1968, fährt aber in jedem folgenden Rennen jeweils die schnellste Runde. Eben „Quick Vic“. Der noch heute von den hilfsbereiten Sizilianern schwärmt, die ihm vor 48 Jahren seinen größten Triumph ermöglichten. „Kurz nach dem Start verlor ich hier zwischen Cefalù und Cerda ein Rad, und die Zuschauer kamen von der Mauer gesprungen, hoben mein leichtes Auto an und ich konnte das Ersatzrad montieren. Man muss sich das vorstellen: Ein Brite in einem deutschen Auto …“. Das störte auch das Publikum ein paar Kurven weiter nicht: „Da verlor ich das nächste Rad. Wieder hoben die Leute das Auto an, und weil ich kein Ersatzrad mehr hatte, schraubte ein Fan das Rad von seinem Privatwagen ab und überließ es mir.“

Mit diesem Trick ist Vic wieder im Rennen und siegt. „Vielleicht lag das aber auch an seinen Schuhen. Denn die stammten natürlich von Schuhmacher Ciccio. Der besitzt noch heute die originalen Umrisszeichnungen von Elfords Füßen, nach denen er die Pedaltreter schuf. Unverwechselbar, denn an Elfords linkem Fuß fehlt nach einem Unfall als Kind der kleine Zeh. Heute fährt er in braunen Freizeitschuhen. Da hat der „American Way of Life“ doch seine Spuren bei ihm hinterlassen …


Info

Text erstmalig erschienen im Magazin Porsche Klassik 10.

Text: Roland Löwisch // Fotos: Markus Leser, Roland Löwisch, Porsche




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Quelle: Porsche Newsroom

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