Alles begann an einem späten Sommerabend bei einem Glas Bier. Auf so einen ersten Satz muss einfach eine Heldengeschichte folgen. Im Christophorus Nummer 90 vom Januar 1968 ist genau das der Fall. Denn so fängt der Artikel des schweizerischen Rennfahrers Rico Steinemann an, in dem er über eine dramatische Langstreckenweltrekordfahrt in Monza berichtet. In diesen Tagen jährt sich der Triumph in den Steilwandkurven des Autodromo Nazionale di Monza zum 50. Mal. Der belgische Porsche-Sammler Johan-Frank Dirickx und der Journalist Bart Lenaerts nahmen den Jahrestag zum Anlass, in einem Porsche 911 R von 1967 – einem von lediglich 20 gebauten Exemplaren – die Strecke von Zuffenhausen nach Monza auf den Spuren der damaligen Rekordjäger nachzufahren. Und zwar über den Umweg Frankreich, weil der damals auch genommen werden musste. Warum? Nun, diese Geschichte beginnt an einem späten Sommerabend bei einem Glas Bier.

Boxenstopp, Autodromo Nazionale di Monza, 1967, Porsche AG

In diesen Tagen jährt sich der Triumph von Monza zum 50. Mal.

Am Tisch sitzen damals Rico Steinemann und sein Rennfahrerkollege Dieter Spoerry, die mit ihrem Porsche 906 Carrera 6 noch mitten in der Rennsaison 1967 steckten und über die motorsportfreie Zeit im Herbst und Winter nachdachten. Auf einmal war da diese Idee: Wie wäre es, die Langstreckenweltrekorde über 72 und 96 Stunden, über 15.000 und 20.000 Kilometer sowie über 10.000 Meilen zu knacken? Die gehörten einmal Porsche, inzwischen aber hatten Ford und Toyota neue Bestmarken aufgestellt. Nach dem letzten Schluck Bier stand der Entschluss fest: Wir holen die Rekorde zurück.

„Alle Rennen, vor allem auch Langstrecken-Wettbewerbe, waren für uns extrem wichtig, um neue technische Erkenntnisse zu erhalten“, sagt Peter Falk, 84, damals Leiter der Vor- und Rennentwicklung bei Porsche. Es war die vordigitale Zeit, Computersimulationen in der Autoindustrie gab es noch nicht. Ob eine technische Lösung funktionierte, musste buchstäblich erfahren werden. Falk: „Das und natürlich die Hoffnung auf einen Erfolg und gute Presse waren die Gründe, warum Porsche den Rekordversuch unterstützte.“ Um die Organisation des Unternehmens kümmerte sich BP Schweiz, Firestone sorgte für die Reifen. Und um vier Tage durchstehen zu können, komplettierten Jo Siffert und Charles Vögele, zwei weitere Rennfahrer aus der Schweiz, das Team.

Zu viele Schläge

Die Rekordjagd beginnt um 12 Uhr mittags am 29. Oktober, einem Sonntag. Jo Siffert ist der Startfahrer. Eineinhalb Stunden dauert eine Schicht am Lenkrad, danach folgen viereinhalb Stunden Pause. Für die Mechaniker an der Box gilt das Pfadfindermotto „Allzeit bereit!“. Günter Steckkönig, damals Fahrwerksexperte bei Porsche, erinnert sich: „Wenn das Motorengeräusch gleichmäßig durchs Oval dröhnte, waren wir beruhigt. Dann konnten wir eine Kleinigkeit essen oder uns sogar im Wohnwagen ausstrecken.“ Mitten in der Nacht jedoch wird das Geräusch leiser, der Porsche 906 rollt an die Box, die Stoßdämpferkolbenstange ist gebrochen. In Windeseile ersetzen Steckkönig und seine Kollegen das Federbein, doch kurz darauf erneut ein außerplanmäßiger Stopp: Diesmal bricht die andere Stoßdämpferkolbenstange. Wieder wird repariert. Wieder wird weitergefahren – bis der Federbeinanlenkpunkt vorne links am Rohrrahmen ausreißt.

Das bedeutet das Aus nach etwa 20 Stunden Laufzeit. Das Reglement der Internationalen Motorsportkommission FIA besagt, dass sämtliche Ersatzteile bei einer Langstreckenrekordfahrt im Auto mitgeführt werden müssen. An der Box erlaubt sind lediglich Ersatzräder, Wagenheber, Zündkerzen, Benzin und Öl. Mit allem Möglichen hat das Team gerechnet, nur nicht mit einem derart desolaten Zustand der beiden Steilkurven in Monza: Im Beton der 1954 mit bis zu 45 Grad Neigung errichteten Wände klaffen fußballgroße Löcher. „Das war eine einzige Rüttelpiste“, sagt Steckkönig. Jedenfalls waren es zu viele und zu heftige Schläge für ein filigranes Rennauto wie den Porsche 906. Noch aber gibt es Hoffnung. Denn binnen 48 Stunden erlaubt das Reglement den Neustart eines Rekordversuchs. Es folgt ein hektisches Ferngespräch von Monza nach Zuffenhausen. Dort eine eilig einberufene Krisensitzung. Dann die Entscheidung: Wir probieren es noch einmal – mit einem Porsche 911 R. Zwei davon stehen in der Versuchsabteilung von Porsche. Jetzt drängt die Zeit. Die Autos müssen so schnell wie möglich nach Monza. Eines als Rennwagen, das andere als Teilespender. Während die Porsche-Ingenieure das Getriebe des für die Rekordfahrt vorgesehenen 911 R noch rennstreckentauglich machen, indem sie anstelle des vierten Ganges einen zweiten fünften Gang einbauen, macht sich Mechaniker Heinz Bäuerle mit dem zweiten 911 R schon einmal auf den Weg.

Eine fulminante Nachtfahrt um die Schweiz herum

Ein paar Stunden später meldet sich Bäuerle von der Grenze: Die Schweizer Polizei lasse ihn nicht einreisen, das Auto sei zu laut. Bäuerle bleibt nur eines: eine fulminante Nachtfahrt um die Schweiz herum – über Lyon, Grenoble, Turin nach Monza. Peter Falk und Motorenexperte Paul Hensler, die erst nach Bäuerles Anruf losgefahren waren, nehmen natürlich gleich den Weg über Österreich und den Brenner an die Rennstrecke. Am Dienstagmorgen kommen sie an – da ist der andere 911 R schon zerlegt, die Ersatzteile liegen bereit.

Ein halbes Jahrhundert später ist die Fahrt wesentlich gelassener. Johan-Frank Dirickx und Bart Lenaerts müssen nicht gegen die Uhr kämpfen, im Gegenteil, die beiden genießen die Passstraßen. Mit ihrem baugleichen Auto fahren sie an Lyon und Grenoble vorbei, halten immer wieder an, fotografieren, genießen den Roadtrip.

911 R von 1967, 2017, Porsche AG

Ein halbes Jahrhundert später ist die Fahrt wesentlich gelassener

Vor 50 Jahren war das anders: Es ist längst dunkel und regnet in Strömen, als am Dienstagabend um 20 Uhr der Rekordversuch erneut gestartet wird. Gleich in den ersten Stunden gibt es Schwierigkeiten mit vereisten Vergasern, doch die BP-Kollegen lösen das Problem mit einem Spritzusatz. Um das Fahrwerk etwas schonen zu können, hat Peter Falk am Nachmittag die größten Schlaglöcher in der Steilwand mit meterlangen weißen Pfeilen auf der Fahrbahn markiert. Die Fahrer konnten sie nun zwischen die Räder nehmen und so die gröbsten Stöße vermeiden. Es funktioniert. Der 911 R zieht mit vertrautem Grollen seine Bahn, der Regen hört auf, der Mittwoch und die zweite Nacht verlaufen problemlos. Die Boxenstopps dauern kaum mehr als eine Minute: 90 Liter Benzin tanken, Öl nachfüllen, Scheibe reinigen, Aufhängungen prüfen – es läuft wie am Schnürchen. Ganz ungeschoren kommt der 911 R aber nicht davon: Je ein Schaden an den Dämpferbeinen vorne links und rechts zwingen den Sportwagen an die Boxen. Wieder schaffen es Steckkönig und die Mechaniker, in kürzester Zeit zu reparieren. Die neuen Dämpferbeine führte der 911 R nach Vorschrift als Ersatzteile mit sich.

Am Donnerstagabend wird es wieder nass. Problem: Es gibt keine Regenreifen mehr. Also schnitzen die Firestone-Experten per Hand Regenrillen in die Trockenreifen. Dann geht es weiter durch Nacht und Regen, geleitet von Batterielampen an der unteren Begrenzung der Steilkurven, um den Fahrern bei mehr als 200 km/h wenigstens etwas Orientierung zu geben. „Ich weiß noch, wie Rennfahrer Charles Vögele nach seinem Einsatz völlig kaputt in der Box saß und sagte, er sei praktisch blind in die Steilkurve reingefahren“, berichtet Steckkönig. „Das waren wirklich hartgesottene Typen.“ Das Ristorante im Autodromo hatte während der Rekordfahrt rund um die Uhr geöffnet. „Einmal habe ich abends um acht ein Frühstück bestellt“, erinnert sich Rico Steinemann.

15.000 Kilometer mit der Rekord-Durchschnittsgeschwindigkeit 210,22 km/h

Am Freitagabend steigt die Spannung: Haben sich die Strapazen gelohnt? Gegen 19 Uhr herrscht Gewissheit: 15.000 Kilometer waren gefahren – mit einer neuen Rekord-Durchschnittsgeschwindigkeit von 210,22 km/h. Wenig später erzielt Porsche mit 209,94 km/h den 72-Stunden-Weltrekord. Nebel zieht auf. Die Sicht beträgt kaum mehr 40 Meter. Trotzdem knackt das Team kurz vor Mitternacht eine neue Bestmarke: 210,28 km/h über 10.000 Meilen. Noch 20 Stunden Vollgas. Zwei Weltrekorde stehen ja noch aus. Die Minuten ziehen sich. Die Müdigkeit wächst. Der Regen nimmt zu. Der 911 R scheint sich wohlzufühlen. Nach vier Tagen, am Samstagabend um 20 Uhr, knallen die Sektkorken: 20.000 Kilometer, 96 Stunden mit einem Durchschnittstempo von jeweils 209,23 km/h. Mit einem Auto, das ein paar Tage zuvor noch in der Versuchswerkstatt in Zuffenhausen gestanden hatte. Und dank eines Teams, das sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ.

Auch heute noch fühlt sich der 911 R auf der traditionsreichen Rennstrecke wohl: Dirickx und Lenaerts ziehen ihre Runden mit dem klassischen Elfer. Ohne Regenreifen, dafür mit Herbstlaub, dessen Blätter um den puristischen Sportwagen tänzeln. Sie erinnern an den Triumph in der Steilwand, der vor 50 Jahren gefeiert wurde.

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Text erstmalig erschienen im Porsche-Kundenmagazin Christophorus, Nr. 383

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Quelle: Porsche Newsroom

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